Das Mädchen auf der Schildkröte

Von Weitem denkt man, in dem runden Brunnenbassin aus Muschelkalk knie eine bronzene Mädchenfigur im Wasser. Von Nahem erkenne ich: Die junge Schöne sitzt auf einer Wasserschildkröte.

Diese außergewöhnlichen Brunnenfiguren wurden 1971 von dem Straßburger Bildhauer Jean Henninger gestaltet. Erst seit 2008 findet sich dieser schöne Brunnen nach den Umbaumaßnahmen wieder am  Münchner Oberanger.

Ein ungewöhnliches Figurenduo

Filigran hält das Mädchen aus Bronze ihr rechtes Bein angewinkelt, auf dem linken stützt sie sich auf der großen Wasserschildkröte, auf deren großem flachen Rücken sie Platz findet. Ihr langes volles Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, was sie modern wirken lässt. Ihr Blick ist wie konzentriert nach unten gesenkt. Mit ihrer zierlichen rechten Hand greift sie an die Unterseite des Halses der Schildkröte, wodurch diese ihren schrumpeligen Bronzehals nach oben reckt. Aus ihrem Maul und ihren Nasenlöchern strömen drei dünne Wasserlinien mit einem spritzenden Geräusch in das mit hellblauem kühlem Nass gefüllte Brunnenbecken.

Die Schildkröte – Symbol der Mutter Erde

Schildkröten sind geheimnisvolle und faszinierende Wesen. Sie umgibt eine mystische Aura. In der indianischen Kultur steht die Schildkröte für die Mutter Erde, die uns alle trägt und ernährt, ihr gewölbter Panzer ist Sinnbild für das Himmelsgewölbe und steht für Schutz und Geborgenheit. Manchmal schwimmt sie im Urozean und trägt auf ihrem Rücken die gesamte Schöpfung. Ihr hohes Alter und ihre bedächtige Art und Weise, sich fortzubewegen, macht sie ganz von selbst zum Symbol für Langlebigkeit, Treue und Beständigkeit. Und wer erinnert sich nicht an Morla, die uralte, weise Schildkröte aus der Unendlichen Geschichte?

Das Mädchen auf der Schildkröte – eine Nymphe?

Wie das Mädchen so anmutig und wie in stummem Verständnis mit dem Tier im Wasser kauert, überlege ich, ob Jean Henninger an eine Nymphe gedacht hat, als er die Mädchenfigur geformt hat. Nymphen sind der griechischen Mythologie nach gutmütige, wohlgesinnte Geister eines Ortes, eines Berges, Baumes oder zu einem Tier zugehörend. Nach der antiken Vorstellungswelt sind auch Orte, Pflanzen oder Tiere beseelt und die Nymphe ist der personifizierte Naturgeist des jeweiligen Ortes oder Lebewesens. Nymphen sind zwar wie die Menschen sterblich – in der Vorstellung vergehen sie, wenn das von ihnen beschützte Naturwesen stirbt – während ihres Lebens jedoch blühen sie in ewiger Jugend.

Nymphen meiden laute und geschäftige Orte – wie gut, dass die Nymphe auf der Schildkröte, wie ich sie jetzt sehe, an einem verhältnismäßig ruhigen Ort, und nicht am Münchner Marienplatz, aufgestellt wurde.

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