Wild und schön – Wunderwesen am Regensburger Dom

Zu einem Ausflug nach Regensburg gehört sicherlich der Besuch der gotischen Kathedrale, des Domes. Es gäbe viel zu erzählen von diesem beeindruckenden Beispiel der Gotik. Wer sich nicht erschlagen lassen möchte von der Fülle an Details, tut gut daran, sich einen Aspekt auszusuchen und sich für diesen genügend Zeit zu nehmen. So haben wir es auch bei unserem letzten Besuch gemacht – und uns die Wunderwesen an den Fassaden des Bauwerks vorgenommen. Gargoyles, grüne Männer, Fratzen, Fabelwesen, Drachen, allerlei Getier, Geschöpfe des Zwielichts und dämonische Begleiter der Nacht – sie tummeln sich zwischen Heiligen und biblischen Szenen.

Warum bevölkerten die Menschen der damaligen Zeit gerne die Wände ihrer sakralen Stätten mit diesen Wesen aus der Zwischenwelt? Zum Einen wollte man sich genau dadurch vor ihnen schützen: Wenn die Mächte des Bösen einen Angriff auf die Kathedrale starten, dann sollen sie schon im Anflug von ihrem eigenen Anblick so erschreckt werden, dass sie gleich kehrt machen. Oder man dachte sich, die heraneilenden Dämonen bekämen bei der Sichtung so vieler Fabelwesen den Eindruck, für sie wäre gar kein Platz mehr – und verschonten das Gebäude. Apotropäisch nennt man solche Figuren, also Unheil abwehrend.

Wie auch immer der Grundgedanke hinter diesem Abwehrzauber aussehen mag: auf diese Weise bekamen die Geschöpfe der Zwischenwelten einen festen Platz unter den Menschen. Übrigens nicht nur außen am Dom, sondern auch innen – ein paar grüne Männer verstecken sich dort in einigen Winkeln und grinsen auf die Besucher herab.

Hinter jedem dieser Wunderwesen steckt aber nicht nur die Angst vor dem Dämonischen, sondern auch die Erinnerung an die einst weit verbreitete Vorstellung, dass die gesamte Natur bevölkert ist von solchen Geschöpfen. Man behandelte sie mit Respekt, sah man doch in ihnen vor allen Dingen das chaotische, nicht kontrollierbare Wirken der Natur, dem wir Menschen zunächst einfach ausgeliefert sind. Um von den Kräften der Natur zu profitieren, galt es, sich gut mit ihnen zu stellen, sie zur Zusammenarbeit einzuladen. Die Christianisierung erschuf aus den daimones (griechisch für „Kräfte“) schließlich die Dämonen. Und heute glauben die meisten Menschen weder an das Eine noch an das Andere.

Wer sich die Geschöpfe am Regensburger Dom genau ansieht, der wird entdecken, mit wie viel Charme und Witz die Bildhauer die einzelnen Skulpturen gestaltet haben, dass es uns schwer fällt, in ihnen nur das Schreckliche zu sehen. Sie wirken teilweise liebenswert, ulkig – und manche sogar weise, wie die Grünen Männer und Wilden Frauen. Gut und Böse – dann sind eben Urteile, die wir Menschen fällen. Die Natur kennt weder gut noch böse. Sie ist, wie sie ist – der Rest liegt im Auge des Betrachters. Vielleicht ist dies eine der Botschaften der zahlreichen Wunderwesen des Domes. Dass Schöpfung immer aus dem Chaos geboren wird. Und dass ohne Chaos kein Kosmos möglich ist.

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