Der Heilige Onuphrius am Marienplatz
Wem ist er schon einmal aufgefallen? Der bärtige Mosaik-Riese an der ockerfarbenen Hauswand am Marienplatz Nummer 17?
Sein alt wirkendes Gesicht ist von einem dichten weißen Bart und langem weißen Haupthaar umwuchert. Nur mit einem losen Blätterkranz um die Lenden ist er bekleidet; hält in der rechten Hand ein Zepter, mit der linken stemmt er einen knorrigen Holzstab neben seinem platten Fuß. Die tiefliegenden, auffallend großen Augen blicken unter der Krone auf seinem Kopf – es ist der heilige Onuphrius, der so streng und bestimmt auf die kleinen Passanten unter ihm blickt.
Natürlich ist es ein modernes Bild, doch die Tradition besagt, dass sich an dieser Stelle über Jahrhunderte hinweg ein Bild dieses Heiligen befand …
Das ewig gute Wesen
Onuphrius bedeutet „das ewig gute Wesen“. Zu seinen Lebzeiten, im 3. Jahrhundert nach Christus, war dieser für uns so fremd klingende Name ein beliebter Vorname in Ägypten. Onuphrius soll aber ein äthiopischer Fürstensohn gewesen sein, der ein angenehmes und leichtes Leben in Reichtum gewohnt war. Als er feststellte, dass er sich in Übermut verirrte, beschloss er, auf die Thronfolge und sein mächtiges Erbe zu verzichten und zog aus in die einsame Wüste. In dieser kargen und Entbehrungen fordernden Umgebung wollte er sein Leben als Asket verbringen und auf alle materiellen Dinge, die der Mensch in seinem Leben zu glauben braucht, verzichten.
60 Jahre Einsamkeit
60 Jahre lang soll Onuphrius in der Wüste gelebt haben, nur Blätter und sein lang gewachsenes Harr und sein Bart bedeckten seine Blöße. Nur von Datteln soll er sich gespeist, von einer kleinen Quelle getränkt haben. 60 Jahre lang soll er keinem Menschen mehr begegnet sein, bis sich eines Tages der Heilige Paphnutius von einer inneren Stimme getrieben in die Wüste aufmachte. Dort traf er den verwilderten Mann, der ihm seine Geschichte erzählte, die Paphnutius in die Welt tragen würde. Nach diesem einzigen und letzten Gespräch der letzten 60 Jahre starb Onuphrius.
Wie Onuphrius nach München kam
Was hat das Bild jenes bärtigen Asketen aber zu uns nach München gebracht? Münchens Gründungsvater, Heinrich der Löwe, soll von Onuphrius̕ Leben fasziniert gewesen sein und von einem seiner Kreuzzüge dessen Hirnschale als Reliquie mitgebracht haben. Die sterblichen Überreste des einsamen Wüstenpilgers wurden in der St. Lorenz Kapelle im Alten Hof aufbewahrt, nach deren Abriss im Jahr 1816 sind diese jedoch verschwunden.
Vielleicht wurde das Bild aufgrund der ehemaligen Nähe seiner Überreste im Alten Hof an jene Hausfassade angebracht?
Onuphrius beschützt die Pilger
Man erzählt sich aber auch, dass sich der Bewohner jenes Hauses am Marienplatz Nummer 17 mit seinem Freund auf eine waghalsige Pilgerfahrt ins Heilige Land begeben hat. Sein Freund starb auf der Reise, er selbst betete zu Onuphrius und versprach, ihm ein Bild zu errichten, käme er sicher nach Hause. Sicher zurück, hielt der Bewohner sein Versprechen und ließ erstmals ein Bild Onuphrius̕ an jener Stelle errichten. Seitdem gilt Onuphrius auch als Schutzpatron der Pilger – wer sich auf eine Reise begibt, soll ihm vor Aufbruch in seine großen Augen schauen, um wohl behalten wieder zurückzukehren. Außerdem: Dem Aberglauben nach soll ein Blick auf ihn vor einem plötzlich eintretenden Tod bewahren! Also, wohin auch immer eure nächste Reise geht, stattet Onuphrius davor einen kurzen Besuch ab!
Der gute Riese hilft den Münchnern
Die Münchner konnten mit der Geschichte des heiligen Onuphrius nicht viel anfangen und verwechselten ihn mit einem anderen Heiligen, der nicht selten recht ähnlich dargestellt wird: dem heiligen Christophorus, ebenso ein Schutzpatron aller, die unterwegs sind. Auch dieser stützt sich gerne auf einem Stab ab, hat einen langen Bart und ein wildes Äußeres – und wird gerne als Riese dargestellt. Weil sich unterhalb des Bildes der Teil des Marktes befand, auf dem Eier und andere Lebensmittel verkauft wurden, bekam der Riese bald den liebenswürdigen Spitznamen „das Stofferl vom Eiermarkt“.
Überhaupt rankten sich bald Sagen um diesen Riesen, die mit dem Ursprung des Bildes gar nichts mehr zu tun hatten. So erzählte man sich, dass tatsächlich ein Riese in den Wäldern vor den Toren von München zu Hause gewesen sei, der aber von gutem Wesen war, die Menschen eher mied und ihnen wohl gesonnen war. Es heißt, dass er den Münchnern wenigstens zweimal zur Hilfe eilte, als Brände die Stadt zu zerstören drohten. Mit Riesenschritte holte er Wasser aus der Isar und löschte damit im Nu die Feuer.
Wilde Menschen in dunklen Wäldern
Möglicherweise verbirgt sich hinter diesem Bild und diesen Sagen noch etwas ganz anderes: die Erinnerung an einen mysteriösen Menschenschlag, die so genannten wilden Männer (und Frauen), die sich in den dichten Wäldern abseits der Zivilisation der Städte aufgehalten haben sollen und von denen in vielen Gegenden Deutschlands und anderer Länder erzählt wurde. Sie werden sehr ähnlich dargestellt – und sind sogar auf einigen Wappen verewigt. Gab es diese wilden Menschen wirklich? Und gibt es sie vielleicht in sehr entlegenen Gebieten der Welt immer noch? Wer hat noch nicht die Geschichten vom Yeti im Himalaya gehört oder vom unheimlichen Bigfoot in Amerika?
Doch kommen wir zurück nach München, wo der heilige Onuphrius uns immer noch von der Hauswand der Nummer 17 fest anblickt. Christophorus, guter Riese, wilder Mann – was er wohl von diesen Spekulationen hält?