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Hausmadonnen und Murmeltiere im Hackenviertel
Das Hackenviertel hat seinen Namen von einem umfriedeten Grundstück, das sich wohl einst hier befand, einem so genannten Hag. Ein Zaun umgrenztes also ein Stück Land, vielleicht einen Garten. Der Zaun markierte in früheren Zeiten nicht nur den Besitz, sondern auch die Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen Heim und unheimlich, zwischen Ordnung innerhalb und Wildnis außerhalb. Ordnung – das ist das zentrale Thema des Tierkreiszeichens, dem wir in unserer letzten Etappe in diesem alten Münchner Stadtviertel begegnen: der Jungfrau. Doch geht es hier nicht darum ordentlich zu sein, sondern vielmehr, seine eigene Ordnung zu finden, den Platz in der Welt, der zu uns passt …
Die Jungfrau – eine Grenzgängerin
Die Balance zu finden zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen, zwischen den Ansprüchen, die an einen gestellt werden und die Wünsche, die wir selbst hegen, das ist die zentrale Aufgabe der Jungfrau. Sie tariert sich selbst an den Umweltbedingungen aus, kennt die Grenze zwischen dem, was notwendig ist und dem, was überflüssig ist, sehr genau. Das Wilde, Unkontrollierte ist ihr demnach ein Gräuel. Wie der Gärtner seinen Garten pflegt und ihn vor dem Zugriff der wilden Natur zu schützen sucht, so ist sie ununterbrochen darauf bedacht, alles zu vermeiden, was eine einmal geschaffene Ordnung bedrohen könnte. Unstimmigkeiten in Regelabläufen machen sie verrückt – und allergisch reagiert sie, wenn sie den Überblick verliert.
Großes Wissen erwächst der Jungfrau aus dieser kritischen Grundhaltung dem Leben gegenüber.Sie ist erfahren im Unterscheiden von Nützlichem und Unnützem. Gerade der konstruktive Umgang mit der Natur ist ihre Stärke. Sie will die Kräfte der Natur zum Wohle des Menschen zähmen, zum Beispiel in der Heilkunde. Kräuterfrauen, Heilerinnen und Hebammen sind die Prototypen des Jungfräulichen im astrologischen Sinne.
Dieses Wissen wurde den Heilerinnen (und auch Heilern) einst zum Verhängnis, denn es machte sie unabhängig, gab ihnen Macht. Sie waren Grenzgängerinnen, Wesen, die sich an der Grenze zwischen Ordnung und Wildnis, dem Hag, auskannten. Man nannte sie daher auch Hagedusen (unter einem Dusen verstand man ein zauberisches Wesen der Wildnis). Aus diesem althochdeutschen Wort entstand über Hagazisa unser neuhochdeutsches Wort Hexe. Und diese wurde bald zum Opfer brutalster Verfolgung.
Das Lerchenfeldpalais in der Damenstiftstraße zeigt einen Abglanz dieser Verbundenheit der Jungfrau mit den Wesen der Natur. Im reichen Dekor der barocken Fassade entdecken wir Faune, Nymphen und andere wilde Wesen. Sie schmücken Simse und Fenster, während uns das Gesicht der Jungfrau über dem Portal zwischen Füllhörnern den Eintretenden zulächelt. Heute beherbergt dieses Palais übrigens das städtische Bestattungsinstitut.
Avec la marmotte
Nach dem imposanten Löwen mit seinem Drang, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, folgt die Jungfrau, die eher im Hintergrund wirkt. Sie benötigt die großartige Geste nicht, denn sie weiß, dass die wesentlichen Dinge sich nicht in aller Öffentlichkeit abspielen. Und so lohnt sich ein Abstecher in die Josephspitalstraße, genauer gesagt in den Hinterhof der Hausnummer 6. Dort entdecken wir, dem Blick der Öffentlichkeit fast entzogen, das Haustier der Jungfrau – das Murmeltier. Ein Knabe hält eines dieser scheuen Tiere auf dem Arm.
Er ist vermutlich einer der so genannten Savoyarden, arme Leute aus Südfrankreich. Diese zogen um die Jahrhundertwende mit ihren dressierten Murmeltieren durch die Straßen und ließen selbige tanzen. Das Murmeltier ist ein typischer “Warner”, ein Beutetier, das sich durch sein feines Gespür für Gefahren und Veränderungen in den Umweltbedingungen, die eine mögliche Bedrohung bedeuten, kennzeichnet. Sie warnen ihre Artgenossen durch das typische Pfeifen und blitzschnell verschwinden sie in ihre Bauten.
In dem bekannten Lied “Ich komme schon durch manches Land”, dessen Text von Goethe stammt und dessen Melodie von Beethoven, geht es um einen solchen Savoyarden, der mit seinem Murmeltier unterwegs ist. Interessanterweise taucht die Jungfrau gleich zweimal auf – freilich mit einer noch anderen Bedeutung:
Ich komme schon durch manches Land,
avec que la marmotte,
und immer was zu essen fand,
avec que la marmotte,
avec que si, avec que la,
avec que la marmotte,
avec que si, avec que la,
avec que la marmotte.Ich hab gesehn gar manchen Herrn,
der hätt die Jungfern gar zu gern.Hab auch gesehn die Jungfer schön,
die täte nach mir Kleinem sehn:Nun laßt mich nicht so gehn, ihr Herrn,
die Burschen essen und trinken gern.
Sonne in Jungfrau
Das lichte Gegenbild der dunklen Hexe ist die Jungfrau Maria. Während die Hexen fast gänzlich aus dem Bewusstsein der Münchner verschwunden sind, ist sie allgegenwärtig in unserer Stadt. In der Tat gibt es unzählige Darstellungen und Skulpturen an den Fassaden Münchner Häuser, welche Maria in all ihren Erscheinungsformen abbildet. Diese Hausmadonnen sind vor allen Dingen im Hackenviertel besonders vielfältig und unübersehbar. Sie zeigen, dass das Jungfrau-Prinzip, vor allen Dingen wenn wir uns vom Kreuz Richtung Neuhauser Straße bewegen, eine große Bedeutung hier besitzt – gewissermaßen der “Genius Loci”, der gute Geist des Ortes, in diesem Viertel ist. Da ist neben den Madonnen, die wir schon am Kreuz kennen gelernt haben, die schmerzensreiche Mutter in der Damenstiftskirche zu erwähnen.
Übrigens soll die Jungfrau Maria natürlich auch unter dem Signum des Tierkreiszeichens Jungfrau geboren sein: wir feiern ihren Geburtstag am 8. September. SOL IN VIRGINE – VIRGO IN SOLE. So bezeichnet diesen Zusammenhang die nachfolgende Abbildung – “Sonne im Zeichen Jungfrau – in der Jungfrau die Sonne”. Das Band des Tierkreises über dem Haupt von Maria zeigt an vorderster Stelle die Jungfrau. Das Christusmonogramm im Herzen der Jungfrau zeigt, wer mit dieser Sonne gemeint ist – Jesus selbst.
Die Wundermadonna
Doch gehen wir weiter. Josephspital, Herzogspital – die Namen der Straßen deuten es bereits an: Zwischen der Josephspitalstraße und der nördlicher gelegenen Herzogspitalstraße erstreckte sich einst ein Gelände, auf dem Krankenhäuser standen. Damit zeigt sich ein weitere Aspekt der Jungfrau an Ort und Stelle, denn diesem Zeichen ist Gesundheit sehr wichtig.
Von den Spitälern ist nicht mehr viel übrig. Doch die Kirche des Herzogspitals, St. Elisabeth, hat als Ort überlebt. Die ehemaligen Gebäuden des dazu gehörigen Servitinnenklosters überstanden den Bombenhagel des letzten Weltkrieges in weiten Teilen nicht und wurden durch eine moderne und sehr schlichte Backsteinkonstruktion ersetzt. So versteckt sich die Kirche heute hinter einer dunklen, wenig einladenden Einfahrt – und birgt doch eines der größten Mysterien Münchens.
Denn hier ist die wohl berühmteste der wundertätigen Madonnen unserer Stadt zu Hause. Ihr sind wir schon an einigen Hausfassaden begegnet, wo uns das Konterfei der Schmerzhaften Muttergottes anblickte. Es handelt sich um eine Statue aus dem 17. Jahrhundert, die im Jahre 1690 während eines Gottesdienstes auf einmal die Augen aufschlug, dich in der Kirche umsah und die Betenden betrachtete. Daraufhin verwandelte sich das Kirchlein in einen gefragten Wallfahrtsort und bald folgte Wunderheilung auf Wunderheilung. Schon sechs Jahre später wurden an die 400 Wunder beglaubigt. Noch im Jahr 1777 ließ der sterbende Herzog Max III. Joseph sich das Gnadenbild an sein Bett bringen. Die Wunder sollen bis zum heutigen Tag anhalten …
Die Kraft der Jungfrau spüren
Das Mysterium der Jungfrau für sich zu ergründen – das geht am besten im Angesicht der wundertätigen Muttergottes. Ziehe dich zurück in die verschwiegene St.-Elisabeth-Kirche, suche dir einen Platz, wo der Blick der Jungfrau Maria dich trifft – und vielleicht meditierst du über eine der folgenden Fragen:
- In welchen Augenblicken habe ich mich zuletzt auf meinem Platz in der Welt gefühlt?
- Was kann ich dafür tun, um meinen Instinkten mehr zu vertrauen, die mir sagen, was gut ist für mich und was nicht? Wie ist es mir gelungen, meine Freiräume zu wahren, und gleichzeitig die Freiräume anderer zu respektieren?
- Welche Maßnahmen möchte ich ergreifen, um in Zukunft mein Wohlbefinden zu steigern, meine Gesundheit zu fördern – und nicht überhaupt wohler in meiner Haut zu fühlen?
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