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Der Nordfriedhof – wo der Tod in Venedig seinen Anfang nimmt
Der Münchner Nordfriedhof
„[Aschenbach] (…) erwartete, da er sich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am Nördlichen Friedhof die Tram (…).
[H]inter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze, Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld bilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden Tages.
Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen Schildereien in lichten Farben geschmückt, weißt überdies symmetrisch angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das jenseitige Leben betreffende Schriftworte, wie etwa: «Sie gehen ein in die Wohnung Gottes», oder «Das ewige Licht leuchte ihnen»; und der Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen Träumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann bemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken eine völlig andere Richtung gab.“
Vom Nordfriedhof zum Tod in Venedig
Diese Zeilen stammen aus Thomas Manns berühmter Novelle „Tod in Venedig“ aus dem Jahr 1911. Heute, mehr als einhundert Jahre später, stehe ich genau vor jener Aussegnungshalle des Münchner Nordfriedhofs. Vor jener, an der Gustav Aschenbach die auch heute noch umliegenden Steinmetze sieht, die fast einen leeren, „unbehausten“ Friedhof für sich bilden, die goldenen Schriftzüge am achteckigen Kuppelbau der Halle liest und sich in deren „Mystik“ verliert. Wo er die „apokalyptischen Tiere“ entdeckt, sphinxartige Steintiere waren es, die es heute leider nicht mehr gibt. Aschenbach beobachtet einen merkwürdig gekleideten Mann, der aus der Aussegnungshalle tritt, der etwas „Wanderhafte[s] in seiner Erscheinung“ trägt, und der in ihm, wie er so vital und eifrigen Schrittes aus dem stillen Friedhof kommt, eine plötzliche „Reiselust“ auslöst. Diese treibt ihn dann nach Venedig, wo er Sehnsucht, Verlangen und, was in dieser Anfangsszene nun wie eine düstere Voraussicht wirkt, den Tod finden wird.
Auf Aschenbachs Spuren
Heute folge ich den Spuren von Aschenbachs Blicken, mit denen er die Aussegnungshalle von der Straßenbahnhaltestelle aus abgetastet hat. Ich steige die auch heute leere „Freitreppe“ hinauf. Auch ich lese groß formulierte Schriftzüge wie „Es ist vollbracht“, die sich golden glänzend von rosafarbenen Decken abheben. Was ist vollbracht, das Leben, wenn man in diese Halle hineingetragen wird?
In der Vorhalle hängt eine riesige goldene Uhr, die unerbittlich läuft. Man sieht sie schon von außen durch das geöffnete Portal blitzen. Das Oktogon im Inneren nimmt die Ordnung von Säulen der Kirche San Vitale in Ravenna auf. Die Decken sind 25 Meter hoch, es hallt bei jedem Schritt, bei jedem geflüsterten Wort. Die Decken sind in hellem Blau gehalten, vielleicht das dem Toten hoffentlich nahende Himmelreich andeutend.
Im Tod sind alle Menschen gleich
Entworfen wurde der Nordfriedhof vom Stadtbaurat Hans Grässel. Im Jahr 1899 wurde der Friedhof eröffnet, neun Mal seit dem erweitert. Heute fasst der Nordfriedhof 35000 Gräber, über die sich insgesamt 2300 derzeit in allen herrlichen Herbstfarben leuchtende Bäume beugen.
Hans Grässel hatte bei seinem Konzept erstmals die Beerdigungsklassen abgeschafft. Nach fünf Kategorien wurden Verstorbene davor auf Friedhöfen klassifiziert – die erste Klasse wurde auf einem extra gepflegten, viel Platz einnehmenden Bereich des Friedhofs begraben, die fünfte Klasse an weniger ausladender und prominenter Stelle. Nach Hans Grässel waren alle Verstorbenen vor Gott und vor dem Tod gleich. Daher gab es auf dem Nordfriedhof als große Innovation keine Beerdigungsklassen mehr.
Ich spaziere über den Nordfriedhof, gelbe und rote Blätter bedecken die Gräber. Es ist ungewöhnlich kalt für Mitte Oktober und der eisige Wind nimmt den Bäumen immer mehr ihrer bunten Blätterpracht. Ein stimmungsvolles Zusammenspiel, die Jahreszeit zusammen mit diesem Umfeld. Alles in diesem Moment und diesem Ort ist Vergänglichkeit.
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