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Das Hofbräuhaus – wo die Kräfte des Chaos herrschen
Tierkreiszeichen Fische. Nachdem der Wassermann alle Ordnung infrage gestellt hat, kommt nun der Augenblick, uns ganz von der Ordnung zu verabschieden. Mit den Fischen löst sich alles in Wohlgefallen auf, wir erreichen den Moment, in dem wir uns von allen Konventionen, Bedingungen und Pflichten befreien – und nur noch so sind, wie wir im Grunde unseres Herzens wirklich sind. Der Augenblick der Wahrheit – wo könnte man ihn trefflicher begehen als an dem Ort in München, wo alle Unterschiede verschwinden und nur noch das Aufgehen in der Masse zählt?
Ein Prosit auf den Rausch!
Mit dem letzten Tierkreiszeichen bewegen wir uns im Graggenauer Viertel weiter, überqueren die Maximilianstraße und tauchen nach wenigen Schritten in die Welt des wohl berühmtesten Flecken Münchens ein, einem Ort an dem sich die Nationen mischen, Arm und Reich, Jung und Alt sich begegnen: dem Platzl. Dort steht es: das Hofbräuhaus – Sehnsuchtsort für alle Freunde des Gerstensaftes (es sei denn es ist Oktoberfest).
Rauschzustände gibt es hier literweise serviert, und dieses Angebot wird sommers wie winters gerne angenommen. Besonders die Schwemme, die riesige Halle in diesem Palast des Bieres, quillt über von Menschen, die nach dem Genuss der einen oder anderen Maß schnell Orientierung für Zeit und Raum verlieren und nur noch im Hier und Jetzt verweilen wollen, eingehüllt in eine Geräuschkulisse aus bierseligem Gegröle und Gesinge, ummantelt von alles übertönender Blasmusik. Ein Zustand, in dem aus jedem, der dieses Erlebnis teilt, schnell ein Freund wird, und sei es nur für ein paar Stunden.
Lenin hielt sich während seiner Emigration einige Jahre in München auf. Im Tagebuch seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja findet sich der Satz: “Besonders gern erinnern wir uns an das Hofbräuhaus, wo das gute Bier alle Klassenunterschiede verwischt.” Passender könnte man den Fische-Charakter des Hofbräuhauses nicht ausdrücken.
Errichtet wurde das erste Hofbräuhaus am Platzl bereits Ende des 16. Jahrhunderts, um die Wittelsbacher kostengünstig mit gutem Bier zu versorgen. Doch erst unter König Ludwig I. wurde im 19. Jahrhundert aus dem Hofbräuhaus eine Gaststätte für die Bevölkerung. Schließlich wurde die eigentliche Brauerei ausgelagert und es blieb nur noch das weltberühmte Wirtshaus übrig, das um die Jahrhundertwende sein heutiges Aussehen bekam.
Der Trunk der Götter
Bevor am 23. April 1516 das Herzogtum Bayern mit einer Landesverordnung verfügte, dass nur mehr Hopfen, Gerste und Wasser im Bier enthalten sein dürfe, der Ursprung des deutschen Reinheitsgebotes für Bier, war Bier tatsächlich ein Grundnahrungsmittel (für das es heute noch die meisten Bayern halten). In der Tat siedete man sich zu Hause seinen eigenen Biertrunk, allerdings eine sehr verdünnte Variante im Vergleich zum heutigen Alkoholgehalt. Der Hintergrund: das Wasser aus den Stadtbächen war alles andere als genießbar. Durch das Brauen aber konnte ein Getränk für den Alltagsgebrauch hergestellt werden, das einen nicht sofort krank machte.
Zugleich aber nutzten die Leute dieses dünne Bier auch als Grundlage für wirklich rauschhafte Getränke, denn beizeiten mischte man allerlei Zauberkräuter darunter, zum Beispiel Bilsenkraut, Tollkirsche und Porst, die aus dem an sich eher harmlosen Trunk ein Mittel machten, das einen in andere Sphären katapultieren konnte. Schon die alten Ägypter und die Germanen betrachteten daher Bier als ein Getränk, um den Göttern näher zu sein – ein heiliger Trunk. Das Reinheitsgebot unterband nun die Verwendung anderer Substanzen – außer Hopfen. Und Hopfen wiederum ist für seine sedierende, lusttötende Wirkung bekannt – ideal also als Getränk, um die Bevölkerung in einen für die Obrigkeit ungefährlichen Rausch zu versetzen, weil in ihm keine bewusstseinsverändernden Zustände mehr erreicht werden konnten.
Die Kräfte des Chaos
Doch auch wer es nicht lange im Hofbräuhaus aushält, der wird rund um das Platzl fündig, wenn er sich auf die Suche nach Symbolik der Fische macht. Fische stehen für die Kräfte, die alle Ordnung verschwimmen lassen – für die Kräfte des Chaos. In der Mythologie sind das die Wesen der Wildnis, die üblicherweise vor den Toren der Stadt anzutreffen sind, im tiefen Wald, im wilden Fluss, auf Wiesen und Fluren. Rund um das Platzl feiern sie fröhliche Urstände und sind an vielen Fassaden zu entdecken: Satyre, Faune, grüne Männer. Sie fühlen sich hier, wo der Rausch zu Hause ist, sehr wohl. Gleich am Eingang zur Schwemme grüßt ein schmunzelnder Grüner Mann die Eintretenden – und verabschiedet immer noch lächelnd die hinaus torkelnden Gäste. Er freut sich darüber, dass Menschen hier ihre Hemmungen verlieren und sich so richtig gehen lassen. Doch auch am Orlandohaus ziehen sie ihre Fratzen, die wilden Kräfte.
Das Chaos ist nicht mit Unordnung gleich zu setzen. Unordnung hat eher etwas mit dem Verlust von Ordnung zu tun. Chaos kommt noch vor der Ordnung. Jede Schöpfungsgeschichte beginnt mit dem Chaos, auch die biblische:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser …
Somit ist Chaos die Voraussetzung für jeden Akt der Schöpfung. Die Kräfte des Chaotischen bringen also nicht nur einfach alles durcheinander, sie sorgen auch dafür, dass wir immer wieder Gelegenheit haben, uns selbst neu zu erfinden ….
Die Kraft der Fische spüren
Wer sich dafür erwärmen kann, der suche tatsächlich die Schwemme im Hofbräuhaus aus, lasse sich für ein paar Stunden in diesen wohligen Rausch versetzen, indem alles gleichgültig wird, weil alles die gleiche Gültigkeit hat – nichts ist mehr wert als das andere. Wer dies nicht aushält, der kann sich rund um das Platzl bewegen, die Menschen beobachten – und sich wundern, während er sich vielleicht folgende Fragen stellt:
- Wo habe ich im vergangenen Jahr Augenblicke gehabt, in denen ich mich nur im Hier und Jetzt verankert gefühlt habe? In denen Zeit und Raum keine Rolle spielten?
- Welchen Stellenwert möchte ich dem Chaos im kommende Jahr geben? Wo sollte ich den Kräften des Chaos mehr Raum geben, um mich selbst neu zu erfinden?
- Was bedeutet Rausch für mich? Woran berausche ich mich gerne? Wo könnte es mir nicht schaden, wenn ich ab und zu mal Hemmungen ablege – und mich frei und ungebunden so gebe, wie ich wirklich bin?
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